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Avsnitt 4.1 - Ernüchterung

Die Erschöpfung kommt schubweise. Zuerst werden einfach die Schritte schwerer. Die Grundgeschwindigkeit beginnt abzunehmen. Steigungen fangen an, mich schon nach wenigen Metern zum Gehen zu zwingen. Ich beisse die Zähne zusammen. Das geht eine Weile so, währenddessen das Ziehen in den Oberschenkeln, in Gesäss- und Rückenmuskulatur immer länger anhält und schliesslich gar nicht mehr abklingt. Das Gefühl in den Fingern schwindet. Jetzt fange ich an, reihenweise Fehlentscheidungen zu treffen. Gedankenlos treibe ich mich Hänge hoch und hinunter, kämpfe mich durch das Gebüsch. Dann wird es immer wieder dunkel um mich herum. Mir wird nicht gleich schwarz vor Augen, aber ich habe Mühe, die Bäume, die auf mich zustürzen zu erkennen, sodass ich mehrmals eine der dürren Kiefern anremple. Vor allem tiefhängende Äste erkenne ich oft erst, wenn sie mir schon die Wange zerkratzt haben. Das verunsichert mich. Ich bleibe mehrmals einfach liegen, wenn ich ausrutsche. Irgendwie rapple ich mich wieder auf. Ich will nicht aufgeben. Immerhin trotten meine Füsse jetzt so langsam vor sich hin, dass ich die Posten auch mit angeschlagenen kognitiven Möglichkeiten wieder einigermassen sicher finde. An Laufen ist schon lange nicht mehr zu denken. Wenn es nicht allzu steil nach unten geht, verfalle ich noch in einen leichten Trab (allerdings ganz ohne der implizierten Leichtigkeit), ansonsten wird mein Vorankommen wohl am besten mit stolpern, schleppen oder stürzen beschrieben.

Schliesslich besteht die Welt vor allem noch aus Schmerz. Das klingt schlimmer, als es ist. Es tut nicht allzu sehr weh, es ist einfach ein niederschwelliger Schmerz, der von jedem Muskel in meinem Körper ausgeht und der sich jedes Mal ein wenig verstärkt, wenn ich im unebenen Gelände mein Gleichgewicht halten muss, zu so etwas wie einem Sprung ansetze oder einen Sturz abfedern muss. Ich kann nicht mehr geradeaus gehen, falle oft hin. Ich mache unglaublich kleine Schritte. Es braucht so viel Kraft, einen Fuss vor den anderen zu setzen. Gesicht und Zunge sind taub, dasselbe in den Armen. Die Gedanken jagen sich in wirren Kapriolen. Das Einzige was ich noch mit Sicherheit weiss: Jetzt gebe ich nicht mehr auf. Und dann geht es ein letztes Mal steil nach unten. Die Felsen links und rechts leiten mich, ich kontrolliere meine Schritte kaum noch, falle dem letzten Posten entgegen. Unten angekommen wuchte ich meinen viel zu schweren Körper durch die Tannenaufforstung auf den schmalen Weg hinaus. Der letzte Posten hat die Nummer 100. Ich versuche es mit einem Schlussspurt, aber mehr als ein Taumeln bringe ich nicht mehr zu Stande. Über die Ziellinie gekippt, bleibe ich einfach liegen und hoffe, dass der Schmerz irgendwann wieder nachlässt.



Die Trendlinie (gepunktet) für die Rückstandsprozente steigt deutlich gegen Ende des Laufs.

Dank österreichischer und norwegischer Hilfe bin ich dann überraschend schnell wieder so weit, dass ich zurück zum Wettkampfzentrum gehen kann. Mir ist schwindelig, habe Mühe mit Artikulieren, aber das Energiegel, das mir verfüttert wurde, hält mich aufrecht. Beim Auslesen werde ich schon seit einiger Zeit erwartet und ich sehe offenbar so abgekämpft aus, dass mir zu meinen Durchhaltewille gratuliert wird: «They told me, you were a tough guy.» Ich nicke und trotte zu meinen Mitstreitern hinüber, die ebenfalls schon eine ganze Weile warten. Besonders tough fühle ich mich nicht. Ich muss etwas essen. Und schlafen, ich bin unglaublich müde.

Daraus wird aber nichts. Meine Gedanken kommen nicht zur Ruhe. Ich bin zwar froh, die Strapazen hinter mir zu haben und wohl auch stolz, bis zum Schluss durchgehalten zu haben, aber je weiter wir das Wettkampfgelände hinter uns lassen, desto mehr mischt sich Ernüchterung in meine Adrenalin-durchtränkte Stimmung. Im dritten Jahr bei den Elite ist das keine Leistung mehr, mit der ich mich zufriedengeben kann, eine Langdistanz gerade so zu überleben. Ich verliere fünfzig Minuten auf Mathias Kyburz, das entspricht vierundfünfzig Rückstandsprozenten. Zwölf Prozent habe ich angestrebt. War das zu hoch gegriffen? Und wieso habe ich es nicht geschafft, mich so auf diese Testlaufserie vorzubereiten, dass ich drei Wettkämpfe in zwei Tagen nicht verkrafte?


Die folgende Spurensuche soll diese Fragen klären. Dabei werde ich mich auf drei zeitlichen Ebenen umsehen, dem halben Jahr vor diesen Testläufen, der Vorwoche und den Wettkampftagen selber. Jeder dieser Ebenen ist ein eigener Blogbeitrag gewidmet (Avsnitt 4.2 bis 4.4), da das Ganze sich zu einem längeren Text entwickelt hat. Wer Interesse daran hat, in meine Gedanken einzutauchen, kann sich die auf diese Weise häppchenweise gönnen.

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